06.11.2024 | Martha Bergenroth, Thomas Gruschka
Der Bundesgerichtshof („BGH“) hat sich in zwei Urteilen vom 17.09.2024 (Az: EnZR 57/23 und EnZR 58/2023) mit den Fragen beschäftigt, wie die Zuordnung der Marktlokation eines Mittelspannungskunden nach einem Lieferantenausfall zu erfolgen habe und ob ein Lieferant, dem eine Marktlokation in Mittelspannung rechtswidrig zugeordnet wurde, gegen den betroffenen Letztverbraucher einen Anspruch auf Zahlung eines Entgelts für den betroffenen Zeitraum habe.
Geklagt hatte eine Stromlieferantin, die mit Letztverbrauchern Stromlieferverträge abschloss, nachdem bekannt wurde, dass der ursprünglich geplante Lieferant an die Kunden kein Strom liefern konnte. Aufgrund eines systembedingten Fehlers bei der Stromlieferantin wurden die Kunden nicht zum jeweiligen Vertragsbeginn bei der Stromnetzbetreiberin angemeldet. Die Stromnetzbetreiberin ordnete die Marktlokation der Kunden in Mittelspannung der Grundversorgerin/Ersatzversorgerin zu. Die Stromlieferantin versuchte bei der Netzbetreiberin eine Zuordnung der in Rede stehenden Marktlokationen zu ihrem Bilanzkreis rückwirkend zu erreichen. Auch eine Abmeldeanfrage an die Grundversorgerin wurde von dieser mit der Begründung „Vertragsbindung“ abschlägig beantwortet. Die Anmeldung zum Bilanzkreis der Stromlieferantin erfolgte schließlich in die Zukunft gerichtet.
Hätte der oben beschriebene Sachverhalt in der Niederspannungsebene stattgefunden, wäre die Zuordnung an die Grund-bzw. Ersatzversorgerin rechtmäßig. Denn in der Niederspannungsebene wird die Versorgungssicherheit in dem Zeitraum, in welchem kein Lieferverhältnis besteht, weil z.B. der aktuelle bzw. geplante Stromlieferant nicht mehr oder, anders als geplant, doch nicht liefern kann, durch das System der Grund- und Ersatzversorgung gewährleistet.
Gem. § 38 Abs. 1 EnWG gilt die Energie als von dem Grundversorger (§ 36 EnWG) geliefert, sofern der Kunde über das Energieversorgungsnetz der allgemeinen Versorgung in Niederspannung Energie bezieht, ohne dass dieser Bezug einer Lieferung oder einem bestimmten Liefervertrag zugeordnet werden kann.
Aufgrund seines eindeutigen Wortlauts ist § 38 Abs. 1 EnWG auf Fälle des Energiebezugs in höheren Spannungsebenen nicht (entsprechend) anwendbar. Es stellt sich daher die Frage, wie die Zuordnung in der Mittelspannung erfolgt, wenn der geplante Lieferant ausfällt.
Der BGH führt aus, dass dem Grund- bzw. Ersatzversorger in der Mittelspannung – anders als in Niederspannung – keine Auffangfunktion zukommt. Der Grund- bzw. Ersatzversorger sei nicht per se aufgrund seiner Stellung, Größe, Erfahrung und Kompetenz als am besten geeignet anzusehen, den erheblichen Energiebedarf der Marktlokationen der Mittelspannungskunden des nicht leistungsfähigen Lieferanten aufzufangen. Vielmehr haben die Netzbetreiber übergangsweise die betreffende Marktlokation auch über das Vertragsende hinaus dem Lieferanten zuzuordnen, mit welchem im Zeitpunkt, in dem der Folgelieferant ausgefallen sei, ein Lieferverhältnis bestand. Erforderlich sei, dass dieser Versorger selbst lieferfähig sei. Dieser Grundsatz gelte auch, wenn mehrere Energieversorgungsunternehmen geeignet seien.
Grund für diese Zuordnungsregelung sei, dass der vorherige Lieferant aufgrund des bestehenden Lieferverhältnisses regelmäßig wisse, wer sein Schuldner sei. Er könne daher zivilrechtliche Ansprüche wegen rechtmäßiger oder unrechtmäßiger Stromentnahme leichter durchsetzen. Für seine bilanzielle Verantwortlichkeit spreche zudem, dass die letzte rechtliche Lieferbeziehung während eines vertragslosen Zustands durch weitere Stromentnahme faktisch nahtlos fortgeführt werde. Auch spreche für die „Fortsetzung“ des Lieferverhältnisses mit dem bisherigen Vertragspartner, dass er bereits über die Kundendaten verfüge. Die Kundendaten müssten dann nicht einem dritten Elektrizitätsversorgungsunternehmen offengelegt werden, sodass ein Verstoß gegen das Vertraulichkeitsgebot nach § 6a Abs. 1 EnWG vermieden werde.
Ordnet der Netzbetreiber die Marktlokation des Letztverbrauchers dem Ersatzversorger zu, obwohl der vorherige Lieferant leistungsfähig ist, verstoße – laut BGH – der Netzbetreiber gegen das Diskriminierungsverbot nach § 20 EnWG, mit der Folge, dass die Zuordnung rechtswidrig ist. Zur diskriminierungsfreien Netznutzung gehört nämlich auch, dass Marktlokationen von Letztverbrauchern nicht ohne sachlichen Grund dem Bilanzkreis eines bestimmten Lieferanten zugeordnet werden.
In seinem zweiten Urteil (Az: EnZR 58/23) hat der BGH dann – folgerichtig – entschieden, dass der Lieferant, dem eine Marktlokation in Mittelspannung rechtswidrig zugeordnet wurde, gegen den betroffenen Letztverbraucher – mangels einer bestehenden Rechtsgrundlage – auch keinen Anspruch auf Zahlung des Entgelts für den betroffenen Zeitraum habe.
Das Urteil führt zu einer unklaren und teils auch unzumutbaren Situation für den Netzbetreiber.
Fällt ein Folgelieferant aus, darf die Entnahmestelle nicht ohne weiteres dem Grund- und Ersatzversorger zugeordnet werden. Auch der Netzbetreiber selbst kann und darf aufgrund der Entflechtungsregeln nicht liefern. Eine Sperrung des Netzanschlusses kann praktisch auch nicht sofort erfolgen. Schließlich darf der Netzbetreiber wegen des Grundsatzes, dass jede Einspeise- oder Entnahmestelle einem Bilanzkreis zugeordnet werden muss (§ 4 Abs. 3 StromNZV), auch keine Zuordnungslücke in Kauf nehmen.
Je nach Perspektive/Marktrolle und Einzelfall ergeben sich nach diesem Urteil eine Vielzahl an Folgefragen, insbesondere dazu, wie diese Grundsätze nun in der Praxis umzusetzen sind. Abzuwarten bleibt auch, ob eine Änderung des § 38a EnWG erfolgen wird, eine entsprechende Gesetzänderung wurde in der Vergangenheit bereits diskutiert.
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i.A. Thomas Gruschka i.A. Martha Bergenroth
Martha Bergenroth
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Thomas Gruschka
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